Previous | Inhalt | Next


 

3.4 Bücherlesen im Speziellen

3.4.1 Überblick

Das Buch wird wertgeschätzt. Nicht nur in Bildungskreisen geniesst es ein grosses Ansehen, vielmehr teilen auch sozial tiefere Schichten diese Haltung. Obwohl sie am Buch nicht so sehr interessiert zu sein scheinen, fehlt ihnen zum Buch eine abwertende Haltung. Manche können nach obligatorischer Schulzeit und ohne reichliche Lesefertigkeiten keinen nachhaltigen Bezug zu Büchern herstellen und doch sind viele von ihnen auch nicht buchfremd, einige von ihnen sind sogar eigentliche Buchnarren, nur wissen sie es nicht. Ihr Lesebuch ist das Buch aller Bücher, das sie zum Blättern, Suchen, Lesen anstiftet und dessen Texte und Gedanken sie zu ergründen versuchen. Es ist auch dieses Buch, das heute noch im Name Bibliothek enthalten ist, und um dessen Geist Kirchen gebaut wurden. Mit ihnen teilen die Bibliotheken nicht nur die verhaltene Ruhe im Innern sondern auch das hohe Ansehen gegenüber dem Buch.

Die Bibel ist der Prototyp aller Bücher und das Bibellesen ist das Vorbild für jegliches Lesen. Wie die Lesesozialisation regelmässig über Generationen gelingt, machen die Religionen vor.

Was das heilige Buch uns vor Augen führt, ist auch die Tatsache, dass das Buchlesen in sämtlichen Bevölkerungsschichten zu finden ist. Es gibt noch weitere Beispiele, wo sich eigentliche Nichtleser bei gegebener Gelegenheit zu Buchlesern werden.

Dabei zeigt sich eine äusserst hohe Motivation. Manchmal erscheinen sie fast als derart befangen, dass es ihnen gar nicht anders möglich ist, als sich in den Text zu stürzen. Die Lesemotivation ist ein in der Leseforschung immer wieder herausstechendes Merkmal der Leser. Bei genügender Motivation und Lesegelegenheit werden viele Leute zumindest vorübergehend zu Lesern. «Zum Verhältnis von Motivation/Relevanz und Medienkompetenz ist anzumerken, dass bei Medien, die einen hohen intellektuellen Aufwand voraussetzen, wie etwa beim Buch, die Nutzungsmotivation eng mit der Nutzungserfahrung und kompetenz verknüpft ist. Gelingt es, eine Person über ein bestimmtes Thema zu motivieren, so wird die Motivation steigen, sich mit einem Medium, in welchem Informationen zu diesem Thema zugänglich sind, auseinander zu setzen».

Die Motivation ist ein starker Antrieb, um sich lesend in ein Buch zu vertiefen, doch ist es ebenso schwierig, diesen Antrieb entstehen zu lassen. Denn Motivierung geschieht nicht immer über den Kopf, ist also nicht kognitiv über ein einsichtiges Verhalten zu erreichen. Von Fall zu Fall gelingt es in einem persönlichen Gespräch, jemanden zu einer Lektüre zu motivieren, doch verblasst diese Motivierung oft ebenso rasch, wie sie aufgebaut wurde.

Um erfolgreich Motivieren zu können, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt werden. In Winterthur ist dies mit der neuen Integrationsbibliothek gelungen. Nadja Witzemann «führt neu zugezogene Fremdsprachige regelmässig in die Bibliothek und hat festgestellt, dass Kinder die Bücher verschlingen und Eltern, die sonst wenig lesen, häufig in Zeitschriften zu blättern beginnen».

Ein weiteres erfolgreiches Projekt findet man in Stuttgart, wo es gelungen ist, über Vorlesepatenschaften auch Kinder aus nichtlesenden Familien zum eigenständigen Lesen zu bewegen.

Um das Lesen als individualisierter Prozess verstehen zu können, muss der Blickwinkel weg von der Einzelperson hin auf das Leseumfeld gelenkt werden. Da entscheidet es sich, ob das Lesen zu einem Buchlesen führt.

 

3.4.2 Lesesozialisation

3.4.2.1 Die Buchlesetätigkeit im Kontext eines sozialen Umfeldes

Das Lesen ist keinem Leser in die Wiege gelegt worden. Alle Leser waren einmal Nichtleser. Dieses zum Leser Werdende wird in der Literatur als Lesesozialisation bezeichnet. Bei uns vollzieht sich die Lesesozialisation in den Kinderjahren und kann als urbildliche Leseförderung betrachtet werden. Sie wird für das spätere Leseverhalten entscheidend sein.

Lange Zeit hat die Leseforschung ­ früher nannte sie sich sinnigerweise Buchmarktforschung ­ ausschliesslich quantitative Daten erhoben, wie Lesehäufigkeit, Leseinhalt, Lesezeit u.ä.m. Sie sind als Folge der Lesesozialisation zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Möglichkeit, die Zahlen zu verstehen und zu deuten. Die Lesesozialisation kann als interdisziplinäre Forschung im Schnittpunkt zwischen Pädagogik und Leseforschung verstanden werden und stellt das prägende Element des Leseverhaltens dar. Deshalb soll sie hier fundiert dargestellt werden.

Die Mechanismen, die zu einer gelingenden Lesesozialisation führen, lassen sich nicht einheitlich beschreiben. Es lassen sich etliche Beobachtungen in diesem Entwicklungsprozess anstellen, ohne dass damit die Mechanismen erklärt worden wären. So etwa, dass Kinder aus lesefreundlichen Familien regelmässig zu Leser werden und umgekehrt. Der Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Mediengebrauch dürfte «der in der Medien- und Leseforschung bisher wohl am häufigsten bestätigte Zusammenhang» sein. Dieser Zusammenhang ist hoch signifikant, stellt zwar noch keine Kausalität aber eine Nähe von Buchlesen und Bildung dar. Die statistisch gefundenen Zusammenhänge sind jedoch erklärungsbedürftig. Aus der Tatsache, dass der Lesevorgang hochkomplex ist, lässt sich nicht schliessen, weshalb ein erheblicher Teil der Bevölkerung Bücher nicht liest.

Dies kann am Beispiel Musizieren gezeigt werden. Hier würde niemand eine Schichtabhängigkeit vermuten. Der Zusammenhang zwischen Buch und sozialer Schicht entspräche­um beim Beispiel Musik zu bleiben­die Aussage, bildungsferne Schichten würden kaum musizieren, während bildungsnahe Personen mehrmals wöchentlich musizierten. Diese Feststellung würde uns doch erstaunen und gäbe zu etlichen Fragen Anlass. Dafür findet man in der Instrumentenwahl sehr wohl Unterschiede, das Piano findet man eher bei bildungsnahen Personen.

Der Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Buchlesen wird jedoch regelmässig als Erklärung herangezogen. Dieser verinnerlichte und kaum mehr hinterfragte Erklärungsansatz behindert jedoch den Blick auf das Lesen beträchtlich. Deshalb soll hier diejenige Studie in den Vordergrund gerückt werden, worin der «Zusammenhang selbst nicht schon als Erklärung für die Vermittlung sozialer und kultureller Ungleichheit aufgefasst [wird], sondern die Art und Weise dieser Vermittlung gilt uns als erklärungsbedürftig».

Diese im Auftrag von Bertelsmann entstandene Studie ist «die vorläufig am zeitnächsten und differenzierteste [Studie], die familiale Lesesozialisation von Grundschulkindern beschreibt». Sie dürfte bis heute richtungsweisend sein. Wie viele andere Studien zeichnet sie sich dadurch aus, dass die Befragung der Kinder mit einer Befragung der Eltern, bzw. Lehrpersonen ergänzt wurde.

Mit Hilfe des Statistikamtes der Stadt Köln wurde eine gewichtete Stichprobe von 200Familien ermittelt, die einen repräsentativen Ausschnitt der Familien mit Kindern gleichen Alters darstellte. Befragt wurden Kinder zwischen 9 und 11Jahren. Bei der Festlegung des Alters liessen sich die Autoren von der Überlegung leiten, dass die Kinder am Ende einer Lebensphase sind, «die in ihrer Familienbezogenheit und auch in ihrer Beeinflussung durch die Schule noch recht einheitliche Züge trägt. Das Leseverhalten dieser Kinder erlaubt eine Beantwortung der Frage, welche Resultate der Lesesozialistion denn am Ende der Kindheit heute festzustellen sind. Ist die Einführung der Kinder in die Lesekultur gelungen, haben sie ein stabiles Verhältnis zum Bücherlesen aufbauen können, oder sind hier überwiegend Defizite festzustellen».

Die Studie wurde in zwei Phasen durchgeführt. Zuerst wurde eine quantitative Befragung durchgeführt, in der die Kinder einen Kinderfragebogen auszufüllen hatten und die Mutter einen umfangreicheren Elternfragebogen und auch der Vater, wo er sich einverstanden gab (ca./4 der Fälle). Es folgte eine Fallstudie mit 24 ausgewählten Familien. Die Kinder und deren Eltern wurden in einem teilstrukturierten Interview intensiv befragt. «Erhoben wurden ausser soziodemographischen Daten Merkmale des allgemeinen familialen Interaktionsklimas und sprachlichen Kommunikationsverhaltens, die Mediennutzung der Eltern und des Kindes, speziell der Umgang mit Büchern und nicht zuletzt die Handlungsformen der Leseförderung und -erziehung». In den Familien wurde gezielt nach denjenigen Merkmalen gesucht, die das Leseklima mit den Aspekten Lesefreude, Lesefrequenz, Lesedauer, Leseerfahrung und Lesehemmung betreffen.

Das wichtigste Ergebnis der Studie ist die Erkenntnis, dass der Einbezug des Buchlesens im Alltag der wesentlichste Faktor für die Lesesozialisation und für das spätere Buchlesen ist. Die unterschiedliche Lesefreude und die Lesehäufigkeit in den untersuchten Familien gehen zu fast einem Drittel beziehungsweise fast zur Hälfte auf dieses Merkmal des Einbezugs des Buches in den Familienalltag zurück. Auch auf die anderen Buchleseaspekte, die Lesedauer, die Leseerfahrungen und die Lesehemmungen der Kinder, hat er einen signifikanten Einfluss.

Die Einbeziehung des Buches in das soziale Verhalten «bestimmt also in erheblichem Masse, ob ein Kind Lesemotivation entwickelt und regelmässig liest. Das Ergebnis macht deutlich, wie falsch das populäre Klischee vom einsamen Leser­zumindest in Bezug auf die Leseentwicklung von Kindern­ist». Und weiter: «Die Lesepraxis entwickelt sich nicht als einsame geistige Tätigkeit, allein auf das Individuum bezogen. Vielmehr erfahren Kinder durch Beobachtung und Koorientierung, welchen Wert das Buch für seine Leser hat».

Die selbstverständliche Einbeziehung des Buches im Familienalltag zeigt sich darin, ob das Buch in der gemeinsamen Wertorientierung der Familienmitglieder eingebettet ist und für das Kind eine erkennbare Bedeutung hat. Eine Verhaltensweise, die das Buch wie selbstverständlich miteinbezieht, stellt sich als ein ungezwungenes Verhältnis zum Buch dar. Damit ist neben dem sichtbaren Buchlesen, auch etwa das selbstverständliche gemeinsame Nachschlagen in einem Lexikon, oder der Versuch, nach Kochbuch ein Rezept auszuprobieren, oder die beiläufige Erwähnung eines Elternteiles zum andern, man habe jenes Buch weggeliehen u.s.f. gemeint.

In der selbstverständlichen und sichtbaren Haltung zum Buch erfährt das Kind die Wertorientierung, dass das Buch in den Beziehungen seiner Bezugspersonen eine wichtige Rolle spielt. Dies beinhaltet nicht nur Situationen wie ein Vorlesen oder Herstellen gemeinsamer Lesesituationen, vielmehr auch «Besuch von Buchhandlungen und Bibliotheken zusammen mit dem Kind, Vorhandensein gemeinsamer Buchinteressen, Lektüre von Kinderbüchern durch die Eltern».

Hingegen haben buchbezogene Tätigkeiten dann keine lesefördernde Wirkung, wenn sie ausserhalb des Blickfeldes des Kindes geschehen, also nicht wahrnehmbar sind. Ein buchbezogenes Familienklima muss für das Kind deshalb auch gegenständlich sichtbar und erfahrbar sein.

In Familien, wo viel gelesen wird, «deren Kinder aber ­ zunächst unerwartet ­ kaum Zugang zu Büchern gefunden haben, zeigte [es] sich, dass die Leseprozesse hier häufig aus dem Familienalltag ausgegliedert sind. Sie finden für die Kinder weitgehend unbemerkt statt, zum Beispiel nur vor dem Einschlafen oder im Arbeitszimmer, oder die Eltern signalisieren den Kindern, dass Lesen dem Rückzug oder der Abgrenzung von anderen Familienmitgliedern dient. Gespräche über die Lektüre finden in diesen Familien kaum statt, Lesen ist Privatsache».

Die positive buchbezogene Haltung in einer Familie ist selber in eine Gesprächskultur eingebettet, die «mit der Häufigkeit von Gesprächen über alltagsferne Themen in der Familie einher[geht]. Das Interesse an Kommunikationen, die den unmittelbaren Erfahrungsraum überschreiten, kommt also sowohl in der interaktiven und kommunikativen Einbindung des Lesens als auch im übrigen Gesprächsverhalten der Familienmitglieder zum Ausdruck».

Die weiteren, äusserst wichtigen Ergebnisse der Befragung sind darüber hinaus die, dass «das Leseverhalten der Eltern der zweitwichtigste Faktor für Lesefreude und Lesefrequenz» des Kindes ist. Im elterlichen Leseverhalten, seien dies nun Print-Medien oder Bücher, erfährt das Kind die Eltern als Vorbilder. Gespräche regen «das Leseverhalten der Kinder in allen unterschiedenen Aspekten an. Das Ergebnis bestätigt die Hypothese, dass Kinder einen grossen Teil ihrer Lesebereitschaft aus sozialen Interaktionen schöpfen. Für Grundschulkinder ist offenbar die Gelegenheit zu Anschlusskommunikationen über Gelesenes besonders wichtig».

Die erfolgreiche Lesesozialisation zum Buchleser erfolgt demnach auf mehreren Ebenen. Zum Ersten muss das Buch für das Kind eine erfahrbare Bedeutung haben, die auch zu Aktivitäten und sozialer Interaktionen führt. In einem solchen buchfreundlichen Familienklima haben lesende Vorbilder sodann eine handlungsanleitende Funktion. Das eigenständige Lesen wird in einer nächsten Phase dann als befriedigend empfunden, wenn sich damit Möglichkeiten zu Anschlusskommunikationen ergeben.

Das Lesen ist stets in einem sozialen Rahmen eingebettet. Auf keiner Stufe findet eine individualisierende Lesesozialisation statt. Anfänglich ist das Buch selber in den sozialen Bezügen einbezogen und das Kind erfährt das Buch als Auslöser und Vermittler von sozialen Handlungen. In seiner eigenen Sozialisation zum selbständigen Leser bringt das Kind später das Gelesene in einen sozialen Zusammenhang ein, das Gelesene wird in sozialen Interaktionen zum gemeinsamen Dritten der Gesprächsteilnehmer. Das Buch und die damit verbundenen Leseerfahrungen haben innerhalb sozialer Beziehungen erfolgreich eine Bedeutung erlangt. Das Buchlesen bietet sich nunmehr als Ausgangspunkt für eine mögliche Anschlusskommunikation an.

 

3.4.2.2 Zur Bildungsabhängigkeit des Lesens

Die Studie bestätigte im Übrigen wie erwartet den hohen Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und dem Leseverhalten der Kinder. Werden wie üblich Familien mit dem Merkmal Bildungsferne mit Familien mit dem Merkmal Bildungsnähe verglichen, so ergibt sich der erwartete Zusammenhang. «Die Korrelation zwischen dem Bildungsgrad der Eltern und der Lesehäufigkeit der Kinder ist nach wie vor deutlich und hochsignifikant».

In bildungsfernen Familien sind die oben beschriebenen Faktoren einer erfolgreichen Buch- und Lesesozialisation regelmässig ungünstiger als in bildungsnahen. Es finden sich weniger: eine soziale Einbindung des Buches, Gespräche über Leseerfahrungen sowie eine Bezugsperson mit einem Leseverhalten, das dem Kind als Vorbild dienen könnte.

Vergleicht man nun bildungsferne Familien mit jenen bildungsnahen Familien, in denen besagte Faktoren in etwa gleich ungünstig wie in den zu vergleichenden bildungsfernen Familien sind, so sinkt der immer wieder gefundene statistische Zusammenhang auf ein nicht signifikantes Niveau. «Diese Faktoren erklären zu einem grossen Teil die Bildungsabhängigkeit des kindlichen Buchlesens. Die hochsignifikante Korrelation des Leseverhaltens der Kinder mit dem Bildungsniveau der Eltern (r=.27) sinkt bei Auspartialisierung der Faktoren1 bis 3 auf einen nicht signifikanten Wert von r=.12. Wenn also Kinder aus unterschiedlichen Sozialschichten sich in ihrem Leseverhalten unterscheiden, so geht dies im wesentlichen auf Merkmale des buchbezogenen, aber auch allgemeinen Interaktionsverhaltens in der Familie zurück. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der sozialen Einbindung des Lesens in den Familienalltag zu, die sehr stark bildungsabhängig ist (r=.34). Kinder der unteren Bildungsschicht finden in dieser Hinsicht schlechtere Bedingungen vor, gemeinsame buchbezogene Interessen und Aktivitäten kommen in ihren Familien signifikant seltener vor als in der mittleren und oberen Bildungsschicht».

Diese Aussage ist zentral für das Verständnis, dass eine Bildungsferne nicht kausal mit einem Nichtbuchlesen zusammenhängt. Die Kausalität zwischen Bildungsferne und Nichtbuchlesen ist letztlich eine indirekte, die Relevanz des Bildungsniveaus tritt zugunsten anderer Merkmale in den Hintergrund. Der Buchbezug innerhalb einer Familie erscheint nun nicht mehr als Merkmal eines Bildungsniveaus, sondern muss vielmehr als ein tradierter Bezug unabhängig vom Bildungsstand verstanden werden.

 

3.4.2.3 Lesefreude und Lesefunktionalisierung

Auch bildungsferne Personen erahnen die Wichtigkeit des Bücherlesens. Sie haben jedoch selber keine Lesefreude im Umgang mit Büchern. Deshalb sind hier «milieubedingte Unterschiede zu erwarten. Diese Erwartung bestätigt unsere Untersuchung vor allem in ihrem qualitativen Teil: Die teilweise Unfähigkeit der Eltern, die Vorlesesituation für die Kinder anregend und auch für sich selbst belohnend zu machen, hängt damit zusammen, dass ihnen selbst ein vertrautes Verhältnis zu Büchern fehlt. So vererben sich Bildungsunterschiede selbst dann, wenn sich die Eltern bemühen, ihre Kinder nach Kräften zu fördern». Und weiter: «Während die höher gebildeten Mütter besonderen Nachdruck auf die Lesefreude des Kindes legen, steht bei den Müttern der niedrigeren Bildungsschicht die Funktion des Lesens für die schulische Entwicklung des Kindes tendenziell stärker im Vordergrund als bei den höheren Bildungsschichten».

Die elterliche Unbeholfenheit gegenüber dem Lesen verhindert ein ungezwungenes Verhältnis zum Lesen. Im Vordergrund steht dann ein einseitiges nur noch im Rahmen der schulischen Leistung gefordertes Lesen, in dessen Rahmen das Kind sich eine Lesefreude nicht erschliessen kann. In bildungsnahen Familien wird das Leseklima von der Lesefreude bestimmt, während bildungsferne Familien eher den Lesenutzen in den Vordergrund stellen, ohne dass das Lesen tatsächlich in ein alltägliches Kommunikationsgefüge eingebettet wäre.

Bei ihnen «jedenfalls lesen Kinder, die nach ihrer eigenen Auskunft häufiger zum Lesen aufgefordert werden, weniger als Kinder, denen dies nicht auferlegt wird. Die Aufforderung zum Lesen wirkt gegenüber den anderen Formen, bei denen die Eltern sich selbstverständlich und aus eigenem Interesse an den kindlichen Erfahrungen mit der Bücherwelt beteiligen, kontraproduktiv. Deren Effekte können sogar beeinträchtigt werden, wenn dem Kind das Gefühl vermittelt wird, zum Lesen gedrängt zu werden».

Auch in der Schule besteht die Gefahr, dass keine Lesefreude entsteht. Da wird das Lesen oft mit sozialer Erziehung und mit Problemthemen beladen. «Dies ist kein geeigneter Weg, die Faszination fürs Lesen zu erhalten oder gar zu wecken, zumal Buben wie Mädchen im Primarschulalter phantastische Literatur bevorzugen».

 

3.4.2.4 Unerwartete Leser

Wie wichtig Bezugspersonen für die Lesesozialisation sind, zeigt sich auch daran, dass man in der Untersuchung sogenannte unerwartete Leser gefunden hat. Damit sind Kinder gemeint, die trotz ungünstigen Bedingungen, hier also wenig soziale Einbindung des Buches im Familienalltag, wenige Gespräche über Leseerfahrungen sowie kein günstiges Leseverhalten der Eltern vorhanden ist, sich unerwartet zu Buchlesern entwickelt haben. Es findet sich in der Literatur «eine gar nicht so kleine Gruppe von unerwarteten Lesern bzw. Büchereroberern (ca.20 Prozent) , die trotz eines wenig lesefreundlichen Elternhauses später noch zu Lesern wurden. Die Erklärungen für das unerwartete Verhalten führen bezeichnenderweise zu Freunden oder Partnern der Befragten, die gern lesen, also ins soziale Umfeld der Leser».

Die Familie entscheidet nicht «unausweichlich über die weitere Lesezukunft eines Menschen.Unsere Betrachtung der unerwarteten Leser unter den Kindern im Fallstudien-Teil kommt zu vergleichbaren Ergebnissen: Teilweise spielen Geschwister eine positive Rolle, oft kommen auch die Anregungen aus der Schule. Wichtig ist, ob solche Impulse auch aufgenommen werden. Die Bedingung hierfür scheint wiederum ein gutes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern zu sein».

 

3.4.2.5 Leseförderungsprojekte

Die Erkenntnisse aus der Lesesozialisationsforschung werden im Stuttgarter Vorleseprojekt umzusetzen versucht, wie es scheint, mit einem gewissen Erfolg. Das Projekt sieht eigentliche Vorlesepatenschaften vor und versucht die Familien der Kinder miteinzubeziehen. Durch das Vorleseprojekt hat man auch zu Familien Zugang gefunden, «in denen der Umgang mit Literatur nicht die Regel ist». Und weiter: «Jetzt schauen Kinder von sich aus Bilderbücher an und sprechen auch mit anderen Kindern darüber. Das war nicht selbstverständlich».

Die sozialen Kontaktnahmen werden als Ressource bei Kindern für das Bücherlesen verwendet. So ist es denkbar, dass sie ausserhalb ihres familiären Rahmens Unterstützung in ihrer Leseneugier erfahren.

In Frankreich werden Eltern aus bildungsfernen Schichten von Kinderärzten erreicht. Dort setzt sich «die Organisation ACCES (Action culturelle contre les exclusions et la ségrégation) seit über zwanzig Jahren für die lecture bébé ein. Auch in der Romandie fördert die Organisation PIP (Prévention de l'illettrisme au préscolaire) seit ein paar Jahren das frühkindliche Vorlesen,Nur in England gibt es ein Programm auf nationaler Ebene. Der Book Trust hat sich mit der Initiative Bookstart (www.bookstart.co.uk) zum Ziel gesetzt, jedes Baby in England mit einem Book Bag zu versorgen. Das Hauptproblem bestehe darin, auch jene Eltern zu erreichen, die aus bildungsfernen Schichten stammen und oft selbst Mühe mit Lesen haben, erklärt Chris Meade, der Leiter von Bookstart. Als effiziente Vermittler haben sich Kinderärzte bewährt, denn wenn der Arzt auf die Bedeutung von Büchern für Babys hinweist, hat das oft mehr Gewicht, als wenn der Rat von pädagogischer Seite kommt. Die Eltern bekommen bei der Routineuntersuchung im achten Monat gratis einen Book Bag, der nicht nur zwei Bilderbücher enthält, sondern auch eine Einladung zur nächstgelegenen Bibliothek, eine Empfehlungsliste mit Kinderbüchern und ein kleines Merkblatt mit Tipps fürs Vorlesen».

Diese Art von Leseförderung zielt nicht mehr auf die individuelle Förderung des Kindes, sondern bezieht die Mutter direkt mit ein und sie wird dank dem Vertrauen, das sie dem Arzt entgegenbringt, befähigt, ihr Kind zu fördern, auch wenn sie selber keine derartige Unterstützung erfahren hat.

 

3.4.3 Fazit: Beziehungen über Bücher strukturieren

Das fatale Zusammenfallen der Bedeutung von Buch mit Bildung hat der Leseförderung keinen guten Dienst erwiesen. Der Eindruck, dass mit Büchern Bildungsinhalte gemeint sind, hat dazu geführt, dass ein grosser Teil der Bevölkerung sich vom Buch nicht mehr angezogen fühlt. Dies ist deshalb umso verhängnisvoller, als dass die Nähe von Bildung und Buch keineswegs eine natürliche sondern letztlich eine konstruierte ist.

Das Buch ist weitaus mehr als Träger von Informationen und belletristischer Bildungsinhalte. Die Bestimmung des Buches ist ausschliesslich die eines Vermittlers und eines Verstärkers bei Gesprächen und dient damit selbstverständlich auch als überaus wichtiger Vermittler von Wissensinhalten innerhalb einer Lehr- und Lernbeziehung. Doch nicht nur und vor allem: nicht nur ausschliesslich. Das Buch hat überall dort seinen Platz, wo Personen über etwas Drittes plaudern, sinnieren und diskutieren. Diese Inhalte sind in der Regel keine Bildungsinhalte. Oft sind es Aktualitäten, Hobbies, Vorlieben, Wünsche; banale und alltägliche Äusserungen menschlichen Denkens. Und auch dort finden sie sich, die Bücher, fast übersehen, in der Alltäglichkeit kaum wahrgenommen, die Kochbücher, die Briefmarkenbücher oder Reisebücher, die eine Orientierung geben und zu einer Anschlusskommunikation verleiten.

Das Buch will immer von mindestens zwei Personen beachtet werden. Gelingt das Rezept nach Kochbuch, ist dies doch ­ wenn auch nur kurz ­ der Rede wert. Fällt dieser Bezugsrahmen weg, so droht auch das Buch aus dem Blickfeld seines Besitzers zu entschwinden. Ebenso das grossformatige Buch über ferne Länder oder über Lokomotiven in der Schweiz, es bereichert und animiert zur geistigen Tätigkeit und die Inhalte werden ohne Zweifel bei passender Gelegenheit erwähnt.

Während der Mensch stets in Beziehungen eingebettet ist, ist das Buch stets zwischen diesen Beziehungen eingebettet. Und das ist auch der Ansatz und der Weg, wie Bücher im Rahmen einer Leseförderung vorgestellt werden wollen: frei von utopischen Wirkungsannahmen als ein vermittelndes Element sozialer Interaktionen

Damit können nun auch der Ort und die Bedeutung der heiligen Schrift in einem Sozialgeflecht besser erkannt werden. Es ist nicht nur Orientierung für menschliches Handeln, sondern vielmehr ein Ausgangspunkt für soziale Aktivitäten innerhalb eines sozialen Gefüges. Lesend partizipiert man an einer Schicksalsgemeinschaft. Das Lesen alleine führt nicht zur Klärung möglicher Fragen, das Lesen hat eine überleitende Funktion hin zu Gesprächen, nicht die Inhalte sollen bewertet sondern die sozialen Aktivitäten geschätzt werden. Das Erfolgsrezept der heiligen Schrift ist dasjenige, dass sie sich erfolgreich zwischen menschlichen Beziehungen festgemacht hat, gewiss nicht ohne die unzimperliche und tatkräftige Unterstützung des Klerus.

An dieser Stelle soll daran erinnert werden, welcherart die ersten Lexika auch im deutschsprachigen Raum überhaupt konzipiert waren. Der Zweck war nicht wie heute ein Sammeln von Wissen, sondern es sollte Anlass für Gespräche sein, es war ein Conversations-Lexikon für die gesellschaftliche Unterhaltung aus den Gebieten der Wissenschaften und Künste. Damit konnte man sein Wissen und Halbwissen anreichern. Phantastische Tierarten und unglaubliche Berichte ferner Zivilisation durfte man so zum Besten geben. Auch hier ist das Buch nicht frei von Zwecken, sondern erhält seinen Sinn gar explizit im Titel.