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3.3 Lesen im Allgemeinen

3.3.1 Übersicht

Lesen ist wichtig. Darüber sind sich alle einig, nicht nur die Leseforscher. Lesen ist ein hochkomplexer Vorgang. Lesen ist an sprachliche Normen und Eigenheiten gebunden. Lesen findet immer vor einem kulturellen Hintergrund statt und: Lesen ist auch immer eingebettet in hinzugedachten Bezügen.

Wir unterscheiden verschiedene Lesearten: Bücher werden durchgelesen, vorgelesen, angelesen oder diagonal gelesen. Man kann einen Text ablesen oder mitlesen, sich in ein Sachgebiet einlesen, zu einem Begriff etwas nachlesen oder eine Arbeit korrekturlesen.

Zu so vielen Bezeichnungen gibt es auch verschiedene Leseverständnisse. Auch in der Forschung gibt es verschiedene Lesarten von Lesen, was immer wieder zu paradoxen Aussagen führt.

Doch soviel kann festgestellt werden: das Buchlesen sowohl der Erwachsenen als auch der Kinder ist erstaunlich stabil geblieben. Man kann von je einem drittel Vielleser, Gelegenheitsleser und Nichtleser ausgehen.

Das Lesen als Kulturtechnik ist nicht bedroht, weder das Radio noch der Fernseher haben das Buchlesen insgesamt gefährdet und auch das Internet wird das Buchlesen nicht verdrängen. Hingegen ist der Rückgang des Buchlesens in Teilbereichen des Medienmarktes feststellbar. Der Fernseher hat das Buchlesen dort verdrängt, wo es schon schwach war:bei sozial tieferen Bevölkerungsschichten. Wer viel fernsieht, liest weniger Bücher.

Dies besagt aber noch nichts über das Leseverhalten in der Gesamtbevölkerung. Das Buchlesen ist eine Möglichkeit unter anderen sich lesend zu betätigen.

So ist im Vergleich zu 1983 für das Jahr2001 eine Erhöhung der Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre bei Schülern festzustellen, was «im Zusammenhang mit der Verbreitung von Gratis- oder Pendlerzeitungen, die Informationen in Kürze bieten und von vielen Kindern und Jugendlichen auf dem Schulweg angeschaut werden, plausibel» ist.

Auch eine «literarisch zwar anspruchslose, aber handwerklich perfekt gemachte internationale, unterhaltende Bestsellerliteratur, deren Marktpotential noch lange nicht ausgeschöpft scheint», ist entstanden. Im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur dürfte es noch nie «so originelle, so viele und so massenerfolgreiche Produkte gegeben haben, wie in den letzten Jahrzehnten».

Eine Auseinandersetzung mit dem Lesen soll auch nicht die alltägliche Lesetätigkeit ausser Acht lassen. So gehören nun einmal auch das Lesen von Trivialliteratur, Konsumliteratur und das bis vor wenigen Jahren noch verschmähte Lesen von Onlinetexten am Bildschirm zu den Lesetätigkeiten. Die in der Leseforschung unmerklich mitgetragene Auffassung, Lesen äussere sich vor allem in einem buchbezogenen, ästhetischen Lesen, die in eine sinnliche Erfahrung mündet, verweist auf jene bildungsideologischen Ursprünge der Leseforschung, wie sie im Rahmen der Nichtnutzerbefragung ausgeführt wurden.

Das informationsorientierte Lesen könnte etwa als Fortsetzung der Bildungsorientierung verstanden werden, in dem der Erkenntnisgewinn statt im geistigseelischen Erleben im geistig-kognitiven Erkennen im Vordergrund steht.

«Eine der eingeschliffensten Sichtweisen, die seit Jahrzehnten zu problematischen Konsequenzen führte fällt zu relativieren heute besonders schwer: Es ist die Gleichsetzung von Lesen gleich Buch gleich anspruchsvolle Literatur».

Der Anteil an Wenig- und Kaumlesern in der Bevölkerung hat sich zwischen 1992 und 2000 von 53% auf 45% tatsächlich verringert. Ebenso hat sich der durchschnittliche private Buchbestand vergrössert, was eigentlich erfreulich ist, wenn nicht eine Skepsis zu dieser Entwicklung mitgelesen werden müsste. Denn damit verbunden ist ein Rückgang der Buchlesekultur. Die Kategorie der Vielleser weitet ihre Buchlesedauer aus, während hingegen die Wenigleser noch weniger lesen als1992. Für diese Kategorie wurde auch schon der Ausdruck klinische Analphabeten vorgeschlagen, während der Börsenverein bei Personen, die sich nicht zu einem Buchkauf bewegen lassen, neuerdings von buchresistenten Personen spricht. Die Sorge um einen Rückgang der Buchlesekultur trotz steigender Lesedauer geht mit einer veränderten Leseart einher, die sich als Lesezapping umschreiben lässt. «Stärker als die übrigen Lesegewohnheiten wandeln sich die Lesestrategien der Deutschen. Neben der kontinuierlichen Lektüre an einem Stück setzt sich mehr und mehr das Lesen in kleinen Portionen durch. Man macht mehr Lesepausen, liest in Zeitnischen im Tagesablauf und überfliegt den Text oft nur, um sich das Interessanteste herauszupicken ­ eine Leseweise, die besonders bei Jugendlichen um sich greift. Gleichzeitig nimmt aber auch der souveräne Umgang mit Büchern zu: Die Zahl derjenigen, die in mehreren Bücher gleichzeitig/parallel lesen, hat sich binnen acht Jahren verdoppelt. Dies wie auch die Tendenz zum kurzzeitigen überfliegenden Lesen ist als Reflex auf die weiter wachsende Informationsflut auch auf dem Büchermarkt zu verstehen».

Was tatsächlich zurückgeht, ist das Lesen von Belletristik. Es «geht zugunsten des informatorischen Lesens zurück. Heute widmen sich Jugendliche weniger dem konzentrierten Lesen längerer Texte, dafür erfassen sie den Inhalt einer Webpage oft schneller als ihre Eltern».

Was mit Lesezapping beschrieben wird, ist eine Folge der besseren Medienkompetenz, was bei Jugendlichen gut beobachtbar ist. Lesezapping wurde schon immer betrieben, sei es in Form eines quer Lesens oder eines überfliegenden Lesens und lässt auf eine gute und angebrachte Lesekompetenz schliessen. Heute wird in allen Altersgruppen häppchenweise aus verschiedenen Medien konsumatorisch gelesen. Man verweilt grundsätzlich weniger lang bei einem Text.

 

3.3.2 Lesen als Ausdruck von Literalität

3.3.2.1 Leseverständnis

Mit Lesen werden unterschiedliche Fertigkeiten zusammengefasst, die der Text erfordert. Beim Buchlesen ist es wichtig, die Kontinuität des Lesevorgangs aufrechtzuerhalten. Das Zeitungslesen kann ganz unabhängig von der Umgebung geschehen und liest man eine Bedienungsanleitung, ist es wesentlich, das Gerät vor sich zu haben.

Entsprechend dem Textlesen lassen sich auch andere Druckerzeugnisse lesen. Etwa Landkarten, Unternehmensbilanzen, Börsenkurse, Preisschilder. Diese Texte verlangen ganz andere Fähigkeiten als etwa das Lesen eines Lauftextes. Ungeübte Kartenleser brauchen eine gewisse Zeit, bis sie eine Strassen- oder Landkarte einigermassen lesen können. Es müssen stets der Massstab, eine Symbolerklärung und die Ausrichtung nach Norden angegeben werden, ansonsten verliert die Karte wesentlich an Aussagekraft. Die Börsenkurse lassen sich ohne spezifisches Vorwissen überhaupt nicht lesen.

Damit ist jedoch der Rahmen, in welchem sich das Lesen abspielt, noch nicht gänzlich erfasst. Regelmässig lesen wir aus den Augen unseres Gegenübers, tagtäglich lesen wir aus den uns umgebenden Gesichtern. Es lässt sich dabei jedes Mal etwas herauslesen, das sich beschreiben und vermitteln lässt und worauf wir unmittelbar reagieren können. Befragt nach dem Warum wir ein Gesicht so lesen, findet man kaum passende Worte und das ist vielleicht auch gut so. Man belässt es beim gewonnenen Eindruck.

Im Lesen von Texten finden sich ähnlich komplexe Vorgänge wie im Lesen von Land- oder Wetterkarten. Der Text muss immer interpretiert und gedeutet werden. Ein Text ist regelmässig in einem Zusammenhang eingebettet und dafür braucht es ein Vorwissen. Wie die Symbole auf der Landkarte untereinander einen Bezug herstellen, sind auch Textelemente zueinander bezogen. Im Lesen verdichten sich somit unterschiedliche Fähigkeiten und erworbene Kompetenzen. Der Leseprozess wird stets begleitet von einer augenblicklichen Integration dieser Fähigkeiten. Tatsächlich regt das Lesen oft an und ein zuviel Lesen ist auch möglich, wenn der Text einen etwa betroffen macht und man sich Zeit zum Nachdenken nimmt.

 

3.3.2.2 Studien zur Lesekompetenz

Es ist ein grosser Verdienst der in den letzten Jahren durchgeführten internationalen Studien zur Lesefähigkeit, die unterschiedlichen Lesefertigkeiten gemessen und verglichen zu haben. Denn damit wurde die Aufmerksamkeit endlich weg von einem funktionalisierten Lesen hin auf ein inhaltliches Leseverständnis verschoben.

Gemäss der ersten PISA-Studie hat die «Schweizer Schülerschaft bezüglich Lesekompetenz bekanntlich irritierend dürftig abgeschnitten: Jeder fünfte Schulabgänger hat hierzulande beispielsweise grösste Mühe, selbst einfache Texte zu verstehen und zu interpretieren».

Auch die Ergebnisse der zweiten PISA-Studie haben «zu reden gegeben. Jugendliche, die Schweizer Schulen besucht haben, sind zu einem erheblichen Teil auch von Lese- und Schreibschwierigkeiten betroffen und damit nicht in der Lage, ihr Lernen und Weiterkommen, ihre beruflichen Karrieren selbständig zu gestalten».

Neben den PISA-Studien wurde 2002 die ALL-Studie durchgeführt, in dessen Rahmen die Lesefähigkeiten Erwachsener untersucht wurden. «ALL erinnert an PISA, die Erhebung der OECD, die alle drei Jahre die Kompetenzen der Jugendlichen am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit evaluiert. Der Unterschied zwischen den beiden Erhebungen liegt in erster Linie bei den Befragten [Jugendliche, Erwachsene], was entscheidende Unterschiede bei der Erhebungsmethode und der Testkonzipierung impliziert. Die geprüften Kompetenzbereiche liegen nahe beieinander, aber in ALL liess man sich bei der Ausarbeitung der Tests in viel grösserem Masse von alltäglichen Situationen leiten, die Erwachsene erleben, um ein authentisches Bild der heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu erhalten». Aus dieser Studie «wissen wir nämlich, dass ein Sechstel der Erwachsenen in unserem Land nicht über jene Grundkompetenzen verfügt, die zur Bewältigung der alltäglichen Informationsvielfalt und zum Weiterlernen notwendig sind».

 

3.3.2.3 Illettrismus

Die Studien und der internationale Vergleich haben mitgeholfen, in der Öffentlichkeit die mangelnde Lesekompetenz nennenswerter Bevölkerungskreise bewusst zu machen. Das geringe Mass an Lesekompetenz wird in der Literatur auch als funktionaler Analphabetismus bezeichnet. Um den missverständlichen Ausdruck Analphabetismus zu vermeiden, spricht man heute von Illettrismus: «Illettrismus ist ein gesellschaftliches Phänomen und verweist auf die Tatsache, dass es Erwachsene gibt, die Grundfertigkeiten des Lesens und Schreibens nicht beherrschen, und dies, obwohl sie die obligatorische Schule absolviert haben. Illettrismus unterscheidet sich insofern vom Analphabetismus, als letzterer Personen betrifft, die nie eine Schule besucht haben und also gar nie die Gelegenheit gehabt haben, lesen, schreiben und rechnen zu lernen».

Die Leseschwäche zeigt sich beim Illettrismus vor allem auf der Verstehensebene. Auch bei gegenständlichen Beschreibungen und Bezügen kann ein vom Illettrismus Betroffener einen Text nicht verstehen. Wird dieser Verständnisaspekt nicht speziell beachtet, kann er auch im Erwachsenenalter für Aussenstehende unbemerkt bleiben, im Gegensatz zur Dyslexie, die in der Schule frühzeitig erkannt wird.

Vordringlich zeigt sich die Leseschwäche von Illettrismus gefährdeten Personen bei zusehends abstrakt werdenden Formulierungen, die für geübte Leser gar nicht als solche wahrgenommen werden. Dem Illettristen fallen die Orientierung in einem Text und die Kontextualisierung der Textinhalte schwer. Seine Lesefähigkeiten zeichnen sich durch eine mangelnde Literalität aus.

«Die Literalität ist die Fähigkeit, das geschriebene Wort zu nutzen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eigene Ziele zu erreichen und das eigene Wissen und Potenzial weiter zu entwickeln». Dass gerade in einem hoch entwickelten Land wie die Schweiz Personen von Illettrismus betroffen sind, wurde auf verschiedenen politischen Ebenen dank diesen Studien als sehr relevant erkannt. Die Gründe zum Illettrismus werden deshalb gegenwärtig in einem Teilprojekt des Nationalen Forschungsprogramms nachgegangen.

Von Illettrismus gefährdete Personen sind versucht, ihre Leseschwäche mit den neuen elektronischen Medien für Aussenstehende zu überdecken und für sich zu kompensieren. «Viele Jugendliche auch aus bildungsfernen Schichten bedienen sich durchaus mit grossem Geschick einiger Gerätschaften, die den IKT zuzuordnen sind. In rein technischer Perspektive haben einige dieser Jugendlichen Kenntnisse und Geschicklichkeiten, die diejenigen ihrer Eltern und sogar von Teilen des Lehrkörpers übersteigen. Das Mobiltelephon ist ein Beispiel hierfür. Dabei geht es jedoch vorwiegend um die Nutzung der IKT zu Unterhaltungszwecken und zur Freizeitgestaltung. Wer seiner Freundin SMS verschickt oder die Sportnachrichten per Natel abruft, muss aber noch lange nicht in der Lage sein, den eigenen Informationsbedarf zu erkennen und in der Informationsflut zu decken. Genauso wenig lässt sich aus dem geschickten Umgang mit IKT auf ausreichende Lesefähigkeiten schliessen».

Die gesellschaftlichen Folgekosten des Illettrismus sind hoch, vergrössern soziale Klüfte und bedrohen letztlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt.