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3. Sozialisierte Lebensweisen und reale Gegebenheiten: Die Perspektiven bildungsferner Schichten

3.1 Überblick

3.1.1 Das Lebensumfeld

Die Sozialisation und das Lebensumfeld bildungsferner Personen sind wesentlich, um deren Einstellung zum Lesen verstehen zu können. Die grosse Verbreitung der Lesekompetenz in unserem Kulturkreis darf nicht darüber hinwegsehen lassen, dass damit für jeden Einzelnen ein schwieriger Aneignungsprozess verbunden gewesen ist: «Lesen ist eine anspruchsvolle Kulturtechnik, sie erfordert Lernaufwand beim Erwerb, und sie fordert Konzentration bei der Ausübung». In jedem Unterricht der Unter- und der Mittelstufe einer Primarschule kann dies täglich beobachtet werden. Mit den Buchstaben sind Laute verbunden, reiht man die Buchstabenlaute eines Wortes aneinander, kann das Wort häufig erraten werden. Jahrelang müssen die Kinder die schwierigen Regeln und nicht nachvollziehbaren Ausnahmen üben. Nach einer Anfangszeit stellt sich regelmässig bei den Kindern eine Lesefreude ein. Sie entdecken, dass ihr Lebensumfeld voller Wörter mit Bedeutungen ist, deren Inhalt sie sich nun erringen können.

Diese Sicht des Leseerwerbs ist weit verbreitet und rückt den Lernenden ins Zentrum. Sie blendet aber den Hintergrund weitgehend aus, vor dem sich der Lernvorgang abspielt und für das Gelingen so wesentlich ist. «Die Entwicklung zum Lesen beinhaltet komplexe Sozialisationsprozesse, die von vielen Instanzen determiert und Motivationen getragen werden».

Das Kind wird während dem Leseerwerb ständig von lesenden Vorbildern begleitet. In der Öffentlichkeit sind überall lesende Erwachsene zu beobachten, die sich Texte aneignen. Im familiären Bereich, der für das Kind so wichtig ist, weisen die Leseanreize jedoch grosse Unterschiede auf.

Es genügt nicht, die Wichtigkeit der mit dem Buchlesen verbundenen positiven Eigenschaften für die geistige Entwicklung eines jeden Kindes hervorzuheben. Die Frage stellt sich vielmehr, weshalb bildungsfernen Haushaltungen trotz des zweifellos hohen Ansehens des Buches und auch einer wohlmeinenden Haltung zum Buch auch mit zusätzlicher Unterstützung nicht gelingt, diese zweifellos günstigste aller Bildungsressource zu nutzen. Letztendlich verweist die Fragestellung auf die Mechanismen, die immer wieder ein selbstbestimmtes Handeln verhindern und die Kinder genau davor nicht schützen können, wovon sie bedroht werden, vor dem Bedüftigsein.

 

3.1.2 Die Einkommensfrage: Bildungsniveau und Sozialstatus

Das entscheidende Kriterium für das Buchlesen findet sich im Bildungsniveau und in dem damit verbundenen sozioökonomischen Status der jeweiligen Familie. Dieser wird über die Ausbildung legitimiert. Eine wichtige Funktion übernimmt dabei die Schule, «indem sie durch unterschiedliche Bildungsniveaus soziale Unterschiede wie ungleiche Besitzstände oder Einkommensverhältnisse begründet und diese als akzeptabel erscheinen lässt».

Der Wert einer Ausbildung kann darüber hinaus erst in Bezug auf die Ausbildungsniveaus anderer Personen und den Anforderungen des Arbeitsmarktes bestimmt werden. «Der Wert der formalen Bildung ist primär bestimmt durch ihren Tauschwert auf dem Markt und nur sekundär durch ihren Inhalt. Da begehrte, privilegierte soziale Positionen nicht beliebig vermehrbar sind, wachsen die Chancen der einen gezwungenermassen auf Kosten der anderen, was dazu führt, dass nicht alle beim Bildungswettbewerb gewinnen können. Der Selektionsbegriff macht deutlich, dass das Bildungssystem von Beginn an widersprüchlich ist: Obwohl prinzipiell für alle Individuen der Zugang zu Bildung offen steht, können aufgrund der systembedingten Selektivität nicht mehr alle möglichen und individuell relevanten Bildungserfahrungen realisierbar bleiben».

Für bildungsferne Personen ergeben sich damit erhebliche Schwierigkeiten. Gerade ihr tiefes Ausbildungsniveau lässt es schwer erscheinen, dieses entscheidend zu verbessern. In der Regel fehlen ihnen erhebliche Ressourcen, häufig Zeit, Geld und das Wissen, wie es zu erreichen ist.

Ausserdem ist es für sie nicht leicht, sich selber zu motivieren und ihre Motivation angesichts der unsicheren Perspektive auf dem Arbeitsmarkt auch aufrecht zu erhalten.

Das erzielbare Einkommen wird massgeblich vom Bildungsstatus beeinflusst und bestimmt damit im Wesentlichen den tiefen Sozialstatus. Diese schwachen materiellen Startbedingungen wiegen umso schwerer, als dass sie sich über Generationen als dauerhaft erweisen. Die schlechtere Bildung wird nämlich den eigenen Kindern meistens weitergegeben, sie erben regelmässig die schlechtere Bildung ihrer Eltern und damit wiederum eine ungünstige Voraussetzung für ihr Weiterkommen.

Die Durchlässigkeit zwischen tiefem und hohem Bildungsstatus beträgt in der Schweiz etwa10%. Es «ist auch heute noch eine sehr starke Korrelation zwischen erreichtem Schulniveau und sozialer Herkunft festzustellen. Trotz Diskussionen über Chancengleichheit hat sich dieser Zusammenhang seit den 1970erJahren kaum verringert». Er beruht «auf eine fatale Kette von Bildungsdefiziten und dem Weitergeben eben dieses Notstands an die eigenen Kinder. Davon betroffen sind nicht nur Immigrantinnen und Immigranten, sondern auch Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen und geschult worden sind».

Sind zudem Kinder grosszuziehen, kann eine knapp genügende finanzielle Situation bald zu grossem Verzicht und Einschränkungen auch bildungsrelevanter Ausgaben führen. Die allgemeinen öffentlichen Bibliotheken wären prädestiniert, die oft spärliche Ausstattung dieser Haushalte mit geeignetem Lesestoff zumindest zeitweise zu bereichern. Denn oft werden grosse Hoffnungen mit dem Schuleintritt der Kinder verknüpft, die unabhängig von der sozialen Herkunft, gleiche Bildungschancen für alle verspricht.

 

3.1.3 Die Gesprächsinhalte

Die Gesprächsinhalte bildungsferner Personen unterscheiden sich wesentlich von denjenigen bildungsnaher Personen.

Es zeigt sich, dass bildungsferne Personen «zur Hauptsache mit dem konkreten Alltagsvollzug beschäftigt sind und sich tendenziell vor allem mit Ereignissen ihrer näheren Umwelt befassen. Erst mit steigender Bildung erhöht sich auch das Interesse am politischen Geschehen der weiteren Umgebung, das u.U. nicht von direkter Bedeutung für das einzelne Gesellschaftsmitglied ist».

Bei bildungsnahen Personen­etwa bei Personen aus der Oberschicht­zeichnen sich die Gesprächsinhalte durch eine Distanziertheit zu ihrem Lebensbereich aus und lassen oft nur einen undeutlichen Zusammenhang zur eigenen Person erkennen. Die Gesprächsinhalte bildungsferner Personen sind hingegen von einer Nähe zu ihren Lebens- und Interessensbereichen gekennzeichnet und manchmal ist auch eine persönliche Betroffenheit erkennbar.

Die Gesprächskulturen bildungsferner und bildungsnaher Personen sind derart unterschiedlich, dass sie schon fast ausschliessenden Charakter haben. Während der eine ihn persönlich betreffende Themen als zudringlich empfindet, weiss der andere zu ihm lebensfernen Themen kaum etwas zu sagen.

 

3.1.4 Zum Vorwissen

Der wesentliche Unterschied aus der Sicht besser gebildeter Personen findet sich im geringeren Mass an Auffassungsgabe, die sich insbesondere bei der Bewältigung von neuen Wissensinhalten zeigt.

Die kürzere Ausbildungszeit und der geringere Bildungsgrad belassen bildungsferne Personen mit weniger Vorwissen. Die Fähigkeit neues Wissen zu integrieren ist bei ihnen von vornherein eingeschränkt. Ihnen fehlt damit die Voraussetzung, die in einer Informationsgesellschaft zusehends abverlangt wird: Informationen von unwichtigem und wichtigem Wissen effizient zu unterscheiden, zu verarbeiten und mit seinem Vorwissen zu verknüpfen.