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2.2 Die Nichtnutzerumfrage der Kantonalen Bibliothekskommission Zürich

2.2.1 Anlage der Befragung

Die Kantonale Bibliothekskommission Zürich beauftragte ein unabhängiges Markt- und Motivforschungsinstitut zu einer Umfrage, die die Wahrnehmung der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken in der Öffentlichkeit und die Gründe für deren Nutzung beziehungsweise Nichtnutzung zum Inhalt hatte. Die Resultate wurden anfangs 2003 vorgestellt und erbrachten fundierte Ergebnisse.

Die repräsentative Stichprobe bestand aus 500 Personen des Kantons Zürich, die mit Hilfe des ETVVerzeichnisses zufällig ermittelt wurden. Sie wurden telefonisch befragt und in die drei Kategorien Viel-, Gelegenheits- und Nichtnutzer eingeteilt. Es ergab sich eine Zusammensetzung von insgesamt 67Vielnutzern, 148Gelegenheitsnutzern und 285Nichtnutzern.

Die ganze Untersuchung war in zwei Teile aufgebaut. Eine telefonische quantitative Befragung mit zum Teil offen gestellten Fragen, zum andern Teil mit geschlossen gestellten Fragen. Die Befragten hatten etwa aus einer vorgelesenen Liste auszuwählen oder die Nennungen zu bewerten. Die signifikante Abweichung vom Mittel des befragten Totals betrug jeweils±5%.

Dieser quantitativen Erhebung folgte eine qualitative Nachbefragung von 50ausgewählten Nichtnutzern. Sie wurde facetoface durchgeführt, dabei wurden keine geschlossenen Fragen gestellt.

Was diese Erhebung so nützlich macht, ist die nach allen Regeln der Umfragekunst durchgeführte Erhebung, die zu aussagekräftigen Ergebnissen führte. Der quantitative Teil der Befragung bestätigte, dass bei Vielnutzern die grosse Auswahl an Büchern und die günstigen Ausleihbedingungen als Nutzungsgründe im Vordergrund stehen. Ebenso wurde aufgezeigt, dass sich sowohl Nutzer als auch Nichtnutzer längere Öffnungszeiten sowie einen zentralen Standort der Bibliothek wünschen.

Es kamen viele Daten zusammen, so auch nur am Rande interessante Merkmale über die unterschiedlichen soziodemographischen Zusammensetzungen der Viel- und der Nichtnutzerhaushalte. Vielnutzer leben eher in Haushalten mit vier oder mehr Personen, also vermutlich mit Kindern zusammen, was auch die häufigeren Nennungen kinderbezogener Merkmale erklären würde (Kinderbücher, Kinderecken). Nichtnutzer hingegen leben eher allein oder zu zweit in einem Haushalt. Sie haben­wie die Vielnutzer übrigens auch­ eher keinen Internetzugang und bezeichnen sich als eher konsumfreudig.

Gelegenheitsnutzer unterscheiden sich im übrigen von den Vielnutzern dadurch, dass diese sich eine möglichst grosse Buchauswahl wünschen, Gelegenheitsnutzer jedoch vermehrt Angebote aus dem Unterhaltungsbereich erwarten, etwa CDs, Comics, Videos, TonKassetten und Computerspiele.

Darüber hinaus geben die Interviews mit den Nichtnutzern die entscheidenden Hinweise auf die Frage, welche Vorstellungen sie überhaupt von Bibliotheken haben und weshalb sie die Bibliotheksangebote überhaupt nicht wahrnehmen.

 

2.2.2 Ergebnisse der Nichtnutzer-Befragung

Die Aufarbeitung der Zusammenfassungen der 50 befragten Nichtnutzer lässt eine Strukturierung der Antworten nach drei Merkmalen als sinnvoll erkennen.

Zum Einen ist dies die zunächst einmal unerfreuliche Wahrnehmung der Bibliotheken. Zum Zweiten finden sich überraschenderweise sehr passende, mit der Realität völlig übereinstimmende Vorstellungen, die auf eine eigenartige Weise mit der unerfreulichen Wahrnehmung kontrastieren. Und zum Dritten werden Wünsche an die Bibliotheken herangetragen, die offensichtlich der heutigen Konsum- und Freizeitwelt entlehnt worden sind.

 

2.2.2.1 Wünsche an die Bibliotheken

Die Bibliotheken sollen sich in ihrem Auftreten an gängige Merkmale einer Konsum- und ConvenienceWelt orientieren. Gewünscht wird eine zentrale Lage, die mit öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln gut erreichbar und im Konsumalltag der Besucher integriert ist. Wünschenswert wären auch längere Öffnungszeiten, längere Ausleihzeiten und verbesserte Rückgabemöglichkeiten.

Die Räume sollten luftig, hell, freundlich, einladend und gut klimatisiert sein, funktionell und mit Sitzgelegenheiten ausgestattet sein.

Bevor man die eigentliche Bibliothek betritt, wollen die befragten Nichtnutzer im Schaufenster und beim Eingang vorab über Neuerscheinungen, News, Hits, Hinweise und Empfehlungen informiert werden.

Drinnen möchten sie gerne von unverbindlichen Degustationsmöglichkeiten (Einlesen, Abhören, Einsehen) profitieren und auch Probierabos angeboten erhalten.

Sie erwarten ein fröhliches, aufgestelltes, unkompliziertes, empfehlungsfreudiges Personal, das ihnen lustvoll massgeschneiderte Vorschläge unterbreitet. Sie erwarten, dass das Personal aktiv auf Bibliotheksbesucher zugeht und Hilfe anbietet.

Diese Aussagen wirken insgesamt nachvollziehbar, plausibel und stimmig. Mit einer gewissen Genugtuung darf man feststellen, dass Nichtnutzer wissen, was sie wollen, und ihre Vorstellungen präzis und kohärent zu formulieren wissen.

 

2.2.2.2 Vorstellungen über Bibliotheken

Nach Ansicht der Befragten werden sie als mögliche Nutzer von den Bibliotheken zuwenig ernst genommen. Sie glauben, dass die Bibliotheksnutzung besondere Interessen oder spezielle Bedürfnisse verlangt, etwa für die heranwachsende Generation und Menschen mit aussergewöhnlichen und überdurchschnittlichen Anliegen. Die Bedürfnisse der breiten Masse, der Durchschnittsbevölkerung, können und müssen nach Ansicht der befragten Nichtbenutzer Bibliotheken nicht zwingend abdecken.

Demzufolge bleiben die Angebote der Bibliotheken in ihren Vorstellungen diffus, denn nach Meinung der Nichtnutzer kann man ohne die Bibliotheken aufzusuchen nicht wissen, was sie anbieten. Ohne Konsumabsicht (also einfach so zum Flanieren oder Gwundern) kann man Bibliotheken nicht betreten. Irgendwie muss man Mitglied der Bibliothek sein, um sie zu nutzen und nur bei regelmässiger Nutzung lohnt sich eine Mitgliedschaft, mit der Mitgliedschaft geht in ihren Vorstellungen auch eine gewisse Verpflichtung einher.

Äusserlich wirken Bibliotheken für Nichtnutzer gross, monumental, mausoleumsähnlich und ehrfürchtig. Sie sind zwar zentral gelegen, jedoch in alten abweisenden Gebäuden untergebracht, die nüchtern, trocken und steril wirken und keine Schaufenster haben.

Sie sind nur über Treppen ohne Lift erreichbar und drinnen unübersichtlich, labyrinthisch und bürokratisch organisiert. Die Innenräume wirken düster und haben wenig Licht. Dort finden sich viele Tische, Stühle, Regale, alles wirkt normiert. Es riecht komisch nach alten Büchern, es ist muffig und verstaubt. Es herrscht eine kalte Atmosphäre und eine unangenehme Stille.

Das Personal ist förmlich, beamtenhaft, nur bedingt freundlich, wenig hilfsbereit, bedächtig, langsam, ordnungsliebend, umständlich, unflexibel und gar stur.

Die Ausleihe ist an sich einfach und unproblematisch, aber umständlich und zeitaufwendig. Man muss vorbeigehen, wissen, was man will, sein Anliegen dem Personal formulieren und falls das Buch bereits ausgeliehen ist, ist man vergebens hingegangen. Die Ausleihe ist mit einer klar begrenzten Nutzungszeit verbunden. Die vorstellungsmässig hohen Kosten für Mahnungen bezwecken eine Abschreckung und halten so die Kunden an, Rückgabetermine zu beachten.

Geführt werden die Bibliotheken von speziellen Menschen mit idealistischen Haltungen und hohen kulturellen Ansprüchen und Werten. Sie haben bescheidene kommunikative Fähigkeiten und nur wenig Bezug zu den durchschnittlichen (materiellen) Bedürfnissen der Konsumenten.

Der Bestand wird als sehr umfassend beurteilt: alle Bücher von allgemeinem Interesse, also Nachschlagewerke, Klassiker, Weltliteratur und Kinderbücher sind in Bibliotheken zu finden.

Nur ausnahmsweise finden sich in Bibliotheken Aktuelles (Neuerscheinungen), einfache (triviale) Bücher (Liebesromane, Krimis) und spezielle Bücher (Hobby, Beruf, Fachwissen).

Vermutlich haben Bibliotheken auch elektronische Medien für Kinder in ihrem Angebot (Tonkassetten, Videos und Spiele). Die elektronischen Unterhaltungs- und Informationsbedürfnisse von Jugendlichen und Erwachsenen werden nach Ansicht der Interviewten von Bibliotheken jedoch kaum gedeckt.

Allem Anschein nach werden die Nichtnutzer von Bibliotheken nicht nur nicht angesprochen, sondern sie empfinden sie als geradezu abweisend, wenn nicht gar bedrohlich. Bei solchen Wahrnehmungen müsste man bei den Befragten auch eine zumindest negative Haltung den Bibliotheken gegenüber erwarten. Doch gerade dem ist verblüffenderweise nicht so. Entgegen allen Erwartungen überraschen die Befragten nämlich mit einer grundsätzlich sehr positiven Einstellung gegenüber Bibliotheken, denen sie gar ein hohes Prestige und Ansehen zugestehen.

Darüber hinaus nehmen die Nichtnutzer auch erstaunlich differenzierte und gar nicht klischeehafte Beobachtungen zur Funktion der Bibliotheken wahr.

 

2.2.2.3 Realistische Einschätzungen

Sie wissen um die Bedeutung der Bibliotheken in einem demokratischen Staat, in dem sie auch die Aufgabe einer Referenzeinrichtung ähnlich derjenigen der Archive einnehmen und dass sie einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Identität bilden.

Den Auftrag der Bibliotheken sehen die Befragten in der akribischen Wahrnehmung des für unsere Gesellschaft, unserer Kultur wichtigen Auftrages der Wissenssammlung, der Wissensverwaltung und der Zurverfügungstellung des Wissens an die interessierte Öffentlichkeit. Alles wird ihrer Ansicht nach in Bibliotheken seriös, zuverlässig und dauerhaft archiviert, nach Themen geordnet, registriert, gepflegt, ausgeliehen und wieder zurückgefordert.

Die Befragten hegen in sich die Vorstellung, dass Bibliotheken in unserer Kultur die Speicherbecken oder Speicherplatten darstellen, dass sie das Hirn für wertvolles Wissen sind. Auch wenn es vorläufig keine zwingenden Gründe gibt, eine Bibliothek aufzusuchen, so ist es jedoch gut, dass es sie gibt, man wisse ja nie. So könnte plötzlich ein Bedarf nach den Angeboten der Bibliotheken aufkommen.

 

2.2.3 Interpretation

Hier soll nun nicht eine inhaltliche Kritik geführt werden, vielmehr soll hinterfragt werden, welches Bild die Befragten mit ihren Aussagen zu vermitteln versuchen.

Was im Bild, das in ihren Vorstellungen herrscht, zunächst auffällt, ist eine eigentlich weltabgewandte und zurückgezogene Arbeit der Bibliotheken. Die Nutzung wird mehrfach behindert, sei dies schon in der äusseren abweisenden Erscheinung, im erschwerten nur über Treppen zu erreichenden Zugang, in der labyrinthischen Anlage der Räume, im förmlichen und wenig unterstützenden Personal, dem man noch letztendlich sein Anliegen vortragen muss, in einem nicht ganz durchschaubaren Gebührensystem und in einem umständlichen und rigiden Ausleihsystem.

Derart ausgestaltet wird es aus der Sicht der Befragten verständlicherweise schwer gemacht, eine Bibliothek zu besuchen. Denn nebst all den labyrinthischen Verwirrungen, die den unkundigen Besucher erwarten, wird von ihnen noch eine körperlich Anstrengung abverlangt, indem die Bibliothek nur über Treppen und ohne Lift zu erreichen ist.

In diesem Bild der nur über Treppen erreichbaren Bibliothek wird die körperliche Anstrengung sinnbildlich für die geistige Anstrengung zusammengefasst, die die Bibliothek vom Besucher erwartet.

Nimmt man das ganze Bild nicht sosehr für eine gegenständliche Beschreibung sondern als ein Bild für gefühlsbestimmte Empfindungen, die halt so beschrieben werden, erkennt man eine fordernde und gleichzeitig versprechende Institution, deren Inhalte für den Nichtnutzer nicht zu erreichen sind. Die Institution selber erscheint ihm widersprüchlich angelegt, einerseits vertritt sie die Werte, die er auch unterstützt, die er jedoch auch mit Mühsal nicht zu erreichen imstande ist.

Dieses Bild findet sich tatsächlich in den Inhalten wieder, welche die Bibliotheken einst vermittelten und wie sie bei uns bis vor gar nicht allzu langer Zeit gang und gäbe waren. Die Befragten geben in ihren Vorstellungen das Bild einer Bibliothek wieder, die sich als Vermittlerin kaum erreichbarer Bildungsideale versteht, so wie es nicht ganz ohne Absicht am Anfang dieses Kapitels im Rahmen eines Rückblicks vorgestellt wurde.

Damit lässt sich nun derjenige Hintergrund darstellen und bezeichnen, den die Befragten auszudrücken versuchen und sich dabei immer wieder in scheinbar diffuse Vorstellungen verlieren, die auch sie selber nicht ganz zuordnen können. Es ist das Bild des kleinen Mannes, der sich einer Bildungsinstitution gegenübersieht, deren Ausstrahlung an Bildungsidealen ihn geistig blendet. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die Vorstellungen der Befragten nunmehr gar nicht so bezugslos, sondern vielmehr stimmig und zusammenpassend. In den Antworten findet sich das Relikt einer vergangenen und überwunden geglaubter Bibliothekskultur.

 

2.2.4 Diskussion

Wie ist es nun möglich, dass sich so ein Bild in weiten Bevölkerungskreisen so lange hat halten können. Woher kommt etwa die Vorstellung, man müsse sein Anliegen den Bibliothekaren formulieren, nachdem die ThekenBibliotheken vor fünfzig Jahren verschwunden sind.

Ein vorerst nahe liegender und plausibler Ansatz ist der, dass ein solch veraltetes Bild über Jahrzehnte durch die Medien transportiert wird. Diese vorerst einleuchtende Vermutung muss jedoch hinterfragt werden, denn immerhin werden in den Medien auch Bilder über Polizisten und Ärzte tagaus tagein im Fernsehen transportiert, ohne dass die Zuschauer diese Bilder auf die Realität übertragen. Und das klischeehafte Bild des gedankenverlorenen Bibliothekars trifft sich doch eher selten in den Medien. Vielleicht ist es gerade die seltene Konfrontation sowohl in den Medien als auch in der Realität mit dem Bibliothekarsberuf, der dieses verzerrte Bild nicht ausräumt, während die häufigen Auftritte von Polizisten und Ärzten in den Medien gerade eine Auseinandersetzung mit deren Rollenbildern im Publikum fördert.

Ein anderer Weg auf der Suche nach einer möglichen Tradierung dieser Vorstellungen führt über Beobachtungen, die auch im Rahmen des Studiums immer wieder gemacht wurden: der Idealisierung des Buches als solches gerade in Bibliothekskreisen selber. Die Konfrontation mit der Problematik um das Ausscheiden von Beständen liess z.B. anschaulich die Hemmungen aufzeigen, die bei Vernichtung von Beständen offenbar gar nicht so selten sind.

Der starke gefühlsmässige Bezug zum Buch und zu dessen erwarteten Wirkungen dürften wesentliche Motive für die Ergreifung dieses Berufes sein. Die starke ideelle Besetzung des Buches in den Vorstellungen des Bibliothekspersonals lässt die Motive auch in die tagtägliche Arbeit einfliessen. Idealistische Motive sind ja in einem gewissen Sinne letztlich auch Voraussetzungen für diesen Beruf.

Wenn man den Bibliothekaren tatsächlich einen gewissen Idealismus zuschreibt, und dies ist natürlich in einem liebenswürdigen Sinne gedacht, dann stellt sich die Frage, woher denn die Bibliothekare ihren Idealismus haben und wie er in unserer Gesellschaft vermittelt wird. Es stellt sich die gewichtige Frage, an welchen Vorbildern sich eigentlich Bibliothekare orientieren.

Die Bibliothekare sind in dieser Betrachtungsweise nicht nur die treibende Kraft einer unmerklichen tradierten Unterstützung von Bibliotheksvorstellungen, in gewisser Weise sind sie auch das Opfer. Sie werden von Bibliotheksbesuchern als kompetente und idealistische Personen angesprochen. An die Bibliothekare wird im Getriebe der täglichen Kontakte eine Rolle herangetragen, die sie in ihrem Handeln und Denken ungewollt auch be
stärkt, der sie deshalb auch nicht ohne weiteres entschlüpfen können.

Die Suche nach der Herkunft der Bibliotheksvorstellungen der befragten Nichtnutzer lässt es möglich erscheinen, dass es die Bilder sind, die im Unternehmen Bibliothek als Betriebskultur weitergegeben werden. Sie wirken hintergründig in den Köpfen so mancher Bibliothekare, die die Vorstellungen über Bibliotheken in weiten Kreisen der Bevölkerung ungewollt nähren und aufrechterhalten.

Wie fatal sich solch eine Vorstellung auswirken kann, soll kurz an einem Beispiel dargelegt. Ein Kunde bemerkt beim Ausleihen, dass er vergessen hat, ein nichtverlängerbares Medium zurückzubringen. Das Buch müsste spätestens am nächsten Tag zurückgebracht werden. Dem Kunden ist dies jedoch unmöglich, er kann es bestenfalls am übernächsten Tag zurückbringen und spricht es während dem Ausleihen der anderen Medien an. Hat sich nun das Bild des beamtenhaften Bibliothekars im Kopf des Kunden festgesetzt, kann der Bibliothekar in solch einer Situation reagieren wie er will, das Bild des beamtenhaften und belehrenden Bibliothekars wird bestätigt. Versichert er dem Kunden, wenn er bis übermorgen das Buch zurückbringt, gäbe es keine Mahnung, erscheint er in den Augen des Kunden als der erhabene und übermächtige Bibliothekar, der sich nach eigenem Ermessen auch über das Ausleihsystem hinwegsetzen kann. Wird die Mahnung systembedingt wie befürchtet ausgelöst, erscheint er als der förmliche, beamtenhafte und unnachgiebige Bibliothekar.

In fataler Weise überliefert und verfestigt sich somit ein Rollenbild, dem schwer beizukommen ist. Auch wenn andere Handlungsstrategien geübt und angewendet werden, könnte dies zu einer zusätzlichen Verfestigung des hintergründigen Rollenbildes beitragen. Es darf hier, ohne weiter ausgeführt zu werden, angenommen werden, dass es sich um ähnliche Mechanismen handeln könnte, die sich etwa Frauen ausgesetzt sehen, die sich aus dem ihnen zugedachten gesellschaftlich verankerten Frauenbild zu emanzipieren versuchen.

 

2.2.5 Exkurs: Lehrerausbildung

Mit einem ähnlichen Problem haben sich Lehrer in ihrer Ausbildung auseinanderzusetzen, weil sie ihr frühes und in der Zwischenzeit verfestigtes, idealisiertes Lehrerbild ungewollt in ihren zukünftigen Lehrerberuf übertragen. Dieses latent mitgetragene und unreflektiert idealisierte Lehrerbild behindert massiv die Ausübung des Lehrerberufs im
modernen Sinne. Wird dieses Bild während der Ausbildung nicht hinterfragt, wird es die Anwendung der erlernten didaktischen Fähigkeiten enorm behindern und führt schliesslich dazu, dass sich im Schulzimmer dieses idealisierte Lehrerbild und den damit verbundenen Denk- und Handlungsweisen gegenüber all denen in der Ausbildung erworbenen didaktischen und pädagogischen Einsichten durchsetzt. In gewisser Weise kann man auch sagen, es setzt sich so durch, als ob der Lehrer keine langjährige Ausbildung genossen habe.

Im Rahmen der Lehrerausbildung der Pädagogischen Hochschule Zürich wird dies aktiv angegangen, thematisiert und reflektiert, indem aktuelle Verhaltensweisen ständig hinterfragt und in den biographischen Kontext gestellt werden. Es soll ein Bezug zu den unerklärlich eingeschränkten Verhaltensweisen der Lehrperson während der praktischen Ausbildung und seiner Lernbiographie hergestellt werden. Damit befreit man die Lehrpersonen tatsächlich von ihren verinnerlichten Erfahrungen und Werteinstellungen und ermöglicht eine enorme Ausweitung ihrer didaktischen Handlungsmöglichkeiten im Schulzimmer.

Die Ausbildung müsste diesen Einsichten unbedingt mitberücksichtigen und eine Form finden, wie diese Rollenproblematik systematisch thematisiert, reflektiert und handelnd geübt werden könnte. Die Sensibilität dafür kann nur in Form von Reflexion und Diskussion etwa im Rahmen von Kolloquien gewonnen werden. Die Perspektive einer guten gesellschaftlichen Fundierung der bibliothekarischen Tätigkeit erscheint in diesem Licht gar nicht so abwegig. Die Erfahrungen mit selbstreflektierenden und erfahrenden Techniken sowie das nötige Expertenwissen sind an der Pädagogischen Hochschule Zürich erarbeitet worden. Die Umsetzungen werden ständig evaluiert, denn angesichts der damit verbundenen Verantwortung verbietet sich ein Wunschdenken völlig.