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2. Ausgangslage: Wahrnehmungen und Erwartungen

2.1 Zum Bibliotheksverständnis: Vom Selbstverständnis zur Fremdeinschätzung

Von ihren Anfängen Mitte des 19.Jh. bis heute haben die Bibliotheken eine grosse Entwicklung erfahren, die verschieden dargestellt werden kann. Umlauf stellt in Anlehnung an den Wissenschaftshistoriker Kuhn eine Phasenhaftigkeit in den Vordergrund, zwischen derer Paradigmenwechsel im Sinne eigentlicher Brüche stattfinden, auf die jeweils Neuorientierungen in der bibliothekarischen Arbeit folgen. Diese werden auch hier hervorgehoben, erfahren aber eine etwas anders Gewichtung, sodass sich vermehrt Züge einer Mentalitätsgeschichte zeigen.

 

2.1.1 Orientierung an Bildungsidealen: Die Bibliothek als Vermittlerin von Bildungsinhalten

Die heutigen allgemeinen öffentlichen Bibliotheken gehen zurück auf die liberaldemokratischen Umwälzungen des 19.Jh. und dienen heute einem bürgerlichen, demokratischen Staat, in dem sich der Bürger in Selbstbestimmtheit und -verantwortung entfalten kann. Der Bildung kommt in diesem Menschenbild ein grosser Stellenwert zu und für die Bibliotheken war es selbstverständlich, ihre Tätigkeit in den Dienst eines humanistischen Bildungsideals zu stellen.

Mit Bildung wurde weniger eine Ausbildung, sondern vielmehr ein Bildungsprozess als Weg zur Erkenntnis verstanden. Bildung wurde als geistigseelisches Erleben des Schönen und Guten verstanden. In diesem Denken war­ideal gedacht­Bildung nur als Selbstbildung möglich. Diese wurde durch geeignete Literatur zu vermitteln versucht. Die Bibliotheken führten deshalb einen grossen Belletristikbestand, der sich zur Hauptsache aus schöngeistiger Literatur zusammensetzte und die hohen Ideale der Bildung erfahrbar zu machen versuchte.

Da das Volk in dieser Denkweise keine Bildung hatte, bezweckten die ersten Bibliotheken mit der Buchausleihe «eine Art säkularisierte Seelsorge», die den Besucher letztlich bevormundete.

Augenfälliger Ausdruck dieses buchpädagogischen Konzeptes war die Ausgestaltung der Bibliothek als Theken (Magazin) Bibliothek, wo sich der Bibliothekar noch leibhaftig und beratend zwischen seinen Buchbestand und den Kunde stellte.

 

2.1.2 Orientierung am Buchmarkt und Zeitgeist: Die Informationsbibliothek

Die verhältnismässig späte Überwindung der Ideologie der Büchereipädagogik ab Mitte des20.Jahrhunderts fand seinen sichtbaren Ausdruck in der Aufgabe der ThekenBibliothek und führte hin zum Konzept der Informationsbibliothek.

Der Anlass dieser Umwälzung dürfte in den neuen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen nach dem Krieg zu finden sein. Im Zentrum der Nachkriegsjahre standen der Aufbau und die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Europas. In diesem Zusammenhang erfuhr der Bildungsbegriff eine neue Bedeutung, die sich entschieden vom humanistischen Bildungsverständnis absetzte. Im Zentrum stand nun ein praktisches Wissen und Können. Der Bildungsbegriff wurde nun mit bisher vernachlässigten Themen wie Arbeit, Beruf und Technik in Verbindung gebracht, die innerhalb einer schulischen Ausbildung auch vermittelbar waren und den wirtschaftlichen Erfordernissen einer Leistungsgesellschaft entsprachen.

Für den Nutzer augenfälligstes Merkmal des neuen Konzeptes war der nun frei zugängliche Bücherbestand, der inhaltlich eine merkliche Veränderung erfuhr, um den neuen gesellschaftlichen Erfordernissen zu entsprechen. Der in der vorangegangenen Epoche noch dominierende Belletristikbestand ging zugunsten der Sachbücher stark zurück.

Die sich nun präsentierende Informationsbibliothek verstand sich als eine «mehr oder minder enzyklopädische Sammlung» von Wissen, dessen Erwerb sich vor allem am Buchmarkt orientierte.

Die Aufstellungsordnung des ganzen Freihandbestandes entspricht in diesem Konzept weitgehend dem heute weit verbreiteten so genannten Mittelbereich, weshalb man sich die Informationsbibliothek der 1950erJahren als eine nur aus dem Mittelbereich bestehende Bibliothek vorstellen kann, so wie man heute noch Fachbibliotheken findet, die aufgrund der beengten Platzverhältnisse nur ansatzweise einen Nahbereich ausgestalten können.

 

2.1.3 Orientierung am Ausleihverhalten der Besucher: Die dreigeteilte Bibliothek

Eine weitere Umwälzung kann im Konzept der so genannten dreigeteilten Bibliothek gesehen werden. Wesentlich in diesem Konzept ist die Zuwendung zum Benutzer. Der Bestandesaufbau orientiert sich nun am tatsächlichen Ausleihverhalten der Kunden und nicht mehr wie vorangehend an den Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt. Deshalb wird die dreigeteilte Bibliothek auch als benutzerorientierte Bibliothek bezeichnet.

Für den Benutzer sichtbarer Ausdruck dieser Umwälzung ist der neue und aktuelle Nahbereich, einen wie bis anhin nach Themen, Titeln oder nach einer alphabetischen Systematik aufgestellten Mittelbereich sowie einen nicht zugänglichen, nur über den Katalog erreichbaren magazinierten Fernbereich.

Der Nahbereich wird zu aktuellen Themen und Interessenkreisen der Nutzer zusammengestellt und wird zeitlich begrenzt aus Versetzungen unterschiedlicher Medien des Mittel- und Fernbereichs gebildet. Mit der dreigeteilten Bibliothek wird den Leseinteressen der Benutzer entgegengekommen, die sich mit einer sachlich systematischen Aufstellung nicht erfassen lassen.

In der Organisation und in den Arbeitsabläufen der Bibliotheken gingen grosse Veränderungen einher. Der Bestand orientiert sich nun an der Bestandskalkulation. Das Erwerbsbudget wird nach der tatsächlichen Ausleihnachfrage der unterschiedlichen Sach- oder Literaturgebiete bestimmt. Gebiete mit mehr Ausleihen werden der Nachfrage entsprechend ausgebaut, während weniger nachgefragte eine Bestandesreduzierung erfahren.

 

2.1.4 Orientierung an die Interessen der Nutzer: Die fraktale Bibliothek

Der vermehrte Einbezug von Benutzerbedürfnissen, die eigentlich ausserhalb bibliothekarischer Kernaufgaben liegen und auch zu kulturellen Aktivitäten gezählt werden können, wurden zusammen mit dem New Public Management in der Form der fraktalen Bibliothek verwirklicht. Diese kann auch als Antwort auf die in den 1970erJahren den Bibliotheken aufgetragene Funktionserweiterung in Form eines kulturellen Treffpunktes verstanden werden. Die Bibliothek sollte nicht nur «ein Medienspeicher und Auskunftsbüro sein, sondern auch Aufenthaltsort, Marktplatz, Freizeitraum und kulturelle Drehscheibe rund ums Buch». Dies bedingte grosszügige Platzverhältnisse, damit die verschiedenen, auch widersprüchlichen Anforderungen räumlich verwirklicht werden konnten.

Die fraktale Bibliothek ist im Kern eine konsequente Weiterentwicklung der dreigeteilten Bibliothek. Der Mittelbereich wird in Anlehnung an den Nahbereich fraktioniert. Der gesamte Bestand wird nach Themen und Interessengebieten auch räumlich in (Medien) Kabinette abgegrenzt. Darin werden ähnliche Bestandsgruppen (etwa Belletristik, Hörbücher, literarische Zeitschriften und Literaturwissenschaft) zusammengefasst. Das Kabinett bildet eine augenfällige raumorganisatorische Einheit, in der entsprechende Erlebnisse vermittelt werden. So kann im Literaturkabinett mit einer Wohnzimmerlampe, Pflanzen, Lesesesseln eine Atmosphäre behaglichen Lesens geschaffen werden, das zu einem Versinken in andere Welten ermuntert.

Neben der räumlichen Aufstellung und Präsentation der Bestände kommt auch eine weitere Verselbständigung der Kabinette gegenüber den übrigen Arbeitsabläufen in der Bibliothek hinzu. Unterschiedliche Personen leiten ihre Kabinette, verfügen über ein Budget und sind für ihre Entscheidungen der Bibliotheksleitung rechenschaftspflichtig. Die Bibliothek als bisheriges organisatorisches Ganzes wird in selbständige Einheiten fraktioniert, die von motivierten und spezialisierten Personen unabhängig geleitet werden. Sie sind ständig in Tuchfühlung mit ihrer Zielgruppe, kennen deren Bedürfnisse gut und können deshalb schnell handeln.

Das Konzept der fraktalen Bibliothek regte einige Bibliotheken­auch die Pestalozzi-Bibliothek­dazu an, ihre Bestandspräsentation mit Elementen aus dem Konzept der fraktalen Bibliothek anzureichern. So finden sich heute feste Themenbereiche ausserhalb der traditionellen Sachgebiete, deren Gestaltungsmerkmale denen der fraktalen Bibliothek folgen. Zusammen mit dem weiterhin gepflegten Nahbereich erscheint so die Bestandspräsentation wesentlich moderner und kundenfreundlicher.

Dies kann auch als Angebotsverbesserung nicht nur zugunsten der angestammten Kundschaft verstanden werden, sondern auch im Hinblick darauf, neue Kundensegmente zu gewinnen. Die sichtbare Änderung in der Medienpräsentation, die in der Zusammenführung unterschiedlicher Medien in eine Bestandesgruppe augenfällig ist, stellt die Voraussetzung dafür dar, bisherige Gelegenheitsbesucher zu einem vermehrten Bibliotheksbesuch zu bewegen und die grosse Zahl der Nichtnutzer den Einstieg in eine ihnen nicht vertraute Welt zu erleichtern.

Trotz all der Bemühungen um eine möglichst effiziente Befriedigung der Kundenwünsche kann beobachtet werden, dass ein Teil der Bevölkerung von diesen Angeboten sich nicht angesprochen fühlt, beziehungsweise immer noch nichts davon weiss.

 

2.1.5 Hinwendung zu neuen Nutzergruppen

Die Bibliotheksnutzer werden von den Bibliotheken besser bedient, während ein Teil der Bevölkerung weiterhin als Besucher nicht zu erreichen ist. Die Erklärung für diesen Umstand konnte nicht im Umfeld der Bibliotheken gefunden werden, sondern musste bei Nichtnutzern gesucht werden.

Diese Arbeit können Bibliotheken nicht leisten. Sie reicht in das Gebiet der Marktforschung und -analyse und kann als eigener Wissenschaftszweig betrachtet werden. Um zu aussagekräftigen Erkenntnissen zu gelangen, muss der Auftrag bibliotheksextern vergeben werden, denn die Gefahr ist gross, dass die Voreingenommenheit der Bibliotheken die Ergebnisse gleich einem Zirkelschluss ungewollt beeinflusst und verfälscht.